Oft verspüren wir den Drang, uns zu verteidigen, wenn wir angegriffen werden - und lassen uns dabei manipulieren. Manchmal tönt aber die Stille schallender als der lauteste Schrei. Über den Mut, durch Untätigkeit Stärke zu zeigen.
Stellen Sie sich die folgende Situation vor: Irgendwo in der Öffentlichkeit sitzen ein Mann und eine Frau an einem Tisch. Offensichtlich ist der Mann aufgebracht und schreit die Frau an. Sie reagiert nicht. Er schreit weiter und beleidigt sie, aber sie schaut nicht einmal auf. Er lässt nicht nach - und sie steht einfach auf und geht weg. Wenn Sie ein solches Ereignis beobachtet hätten, was würden Sie denken? Würden Sie denken, dass die Frau etwas falsch gemacht hat? Oder würden Sie denken, dass der Mann das Problem zu sein scheint?
Zugegeben, dieses Verhalten ist ziemlich ungewöhnlich. Ich denke, es kommt häufiger vor, dass die Frau versuchen würde, sich zu verteidigen. Wie würde das unsere Wahrnehmung beeinflussen? Wir würden jetzt vielleicht einen Konflikt mit zwei beteiligten Parteien erleben. Sie streiten sich, also könnte es einen Grund dafür geben. Irgendwie legitimiert die Reaktion der Frau die Reaktion des Mannes. Schließlich gibt es immer zwei Seiten einer Geschichte, oder?
Die Kunst der Einschüchterung durch Stille
Lassen Sie mich Ihnen ein weiteres Beispiel aus persönlicher Erfahrung geben. Manchmal geriet ich bei der Arbeit mit meinen Vorgesetzten in Konflikte, da wir uns darüber uneinig waren, was richtig und was falsch war - und ich bin ein Mann starker Überzeugungen. Wenn die Auseinandersetzung also ungemütlich zu werden drohte, kam ich zu der Einsicht, dass die beste Reaktion darin bestand, nichts zu erwidern und aufmerksam zuzuhören. Zum einen ist das meiner Meinung nach die angemessenste Reaktion. Wenn man angegriffen wird, setzen unsere Instinkte ein und wir handeln aus Emotionen heraus, was keine gute Grundlage für ein fruchtbares Gespräch ist. Stattdessen ist eine reifere Reaktion, still zu bleiben, über das Gesagte nachzudenken, zu reflektieren und gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt zu antworten.
Zum anderen habe ich dabei noch etwas anderes bemerkt. Bei solchen Auseinandersetzungen erwartet die andere Person, dass man reagiert und sich verteidigt. Wenn ich stattdessen aber ohne Emotionen nur zuhörte, bemerkte ich, dass mein Gegenüber unsicher wurde. Ich hatte mich nicht so verhalten, wie sie es sich vorgestellt hatte. Anstatt sich eingeschüchtert zu fühlen, gab es mir mehr Selbstvertrauen, weil ich wusste, dass es professionell gesehen keinen Grund für eine hitzige Debatte gab. Ich lasse mich nicht von Unprofessionalität einschüchtern.
Wenn jemand versucht, eine andere Person einzuschüchtern und merkt, dass es ihm nicht gelingt, spürt er, wie ihm die Macht, die er zu haben glaubte, durch die Finger rinnt. Natürlich erfordert eine solche Reaktion innere Stärke, aber einmal gemeistert, trägt es erheblich zur Selbstermächtigung bei.
Ich bin davon überzeugt, dass dasselbe auf Menschen zutrifft, die einen willkürlich beleidigen, weil sie einen schlechten Tag haben. Wenn man sie ignoriert, geben sie schließlich auf. Ein Erfolg ohne Kampf.
Die Höhle des Trolls betreten
Sinnlose Debatten und Streitereien scheinen heutzutage das Schmiermittel zu sein, welches das Internet am Laufen hält. Dort, könnte man meinen, wäre es sogar noch einfacher, einen Troll zu ignorieren - jemanden, dessen einziges Ziel es zu sein scheint, zu provozieren. Dennoch ist der Drang zu reagieren für viele Menschen unwiderstehlich. Das legitimiert aber die Person, die zündelt - und verleiht ihnen Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit, also genau das, was sie wollen. Schließlich wären sie ohne Reaktion genau der Mann, der einen leeren Tisch anschreit. Lasst die Verrückten verrückt sein. Wenn sie isoliert sind, könnte man sie vielleicht aushungern. Eine hässliche Version von Tinkerbell sozusagen: Umso mehr Aufmerksamkeit man ihnen widmet, umso stärker werden sie.
Letztlich begegnete ich diesem Problem immer wieder in den Schulen, an denen ich arbeitete. Jeden Tag beleidigten sich die Schüler gegenseitig. Am häufigsten benutzten sie das Wort Hurensohn. In fast allen Fällen löste das eine extreme Reaktion aus. Natürlich konnte es keiner der Maskulinität suchenden Jungs hinnehmen, dass seine Mutter beleidigt wurde. Häufig besuchte ich Klassen für Interventionen nach Fällen von Aggression. Ich versuchte ihnen zu erklären, dass solche Beleidigungen nichts mit ihren Müttern zu tun hatten. Kennt der andere Typ deine Mutter? Nein? Ist deine Mutter eine Hure? Nein? Woher sollte er das überhaupt wissen? Das kann er nicht. Will er deine Mutter beleidigen? Nein! Aber er will dich provozieren. Du reagierst? Glückwunsch, du wurdest eben erfolgreich manipuliert! Jemand, der eine Mutter beleidigt, ohne dass darauf reagiert wird, macht sich lächerlich. Indem du darauf reagierst, gibst du ihm, was er will. Er gewinnt. Er weiß, wie er dich kontrollieren kann. Sei stärker! Lass dich nicht ausspielen!
Ich bin mir sicher, dass die Schüler kein Problem damit hatten, meine Argumentation zu verstehen, aber sie konnten sich nicht immer zurückhalten, aus Angst davor, von ihren Freunden oder Familien als schwach, unehrenhaft oder feige abgeurteilt zu werden. Wie so oft hindern uns Erwartungen daran, das Richtige, das Klügere zu tun.
Trolle sind verletzte Menschen. Niemand, der stark und selbstbewusst ist, muss andere beleidigen oder verletzen. Sie fahren eine schmerzhaften Kampagne, um sich selbst jeden Tag zu beweisen, dass sie nicht völlig wertlos sind; dass sie existieren. Sie lechzen nach Aufmerksamkeit - und Provokation ist das einzige Mittel, das sie kennen, um sie zu bekommen. Wir sollten sie bemitleiden - und gleichzeitig ignorieren, um es uns selbst leichter zu machen. Auf Provokation zu reagieren steht nicht immer für Stärke.
Lasst sie Stille kosten - und schaut dabei zu, wie sehr ihnen deren bittere Geschmack taugt.
Comments