Aus dem Leben eines Sozialpädagogen, der sich manchmal kaum auf die eigene Arbeit konzentrieren konnte
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Lassen Sie mich gleich mit einer Liste beginnen, von der ich mir wünschte, ich hätte sie nie erstellen müssen:
Verhalten während der Arbeit:
- Wir initiieren keinen intimen Körperkontakt mit Kindern (wie beispielsweise Umarmungen)
- Wir sind nie irgendwo alleine mit einem Kind, die Situation ist immer einsehbar
- Wir gehen während der Arbeitszeit nicht spazieren
- Wir hören während der Arbeitszeit keine Musik
- Wir benutzen während der Arbeitszeit das private Handy nicht
- Wir bemühen uns darum, die Kinder immer respektvoll anzusprechen
- Wir sprechen mit Kindern nicht über sexuelle Praktiken oder Vorlieben
- Wir drohen Kindern nicht mit Gewalt, Anzeigen oder ähnlichem
- Wir gehen nur zur Arbeit, wenn unsere Aufmerksamkeit nicht beeinflusst ist, z.B. durch Medikamenteneinfluss
- Wenn wir nichts zu tun haben, suchen wir uns eine sinnvolle Beschäftigung und sitzen nicht nur die Zeit ab
- Wir übernehmen Verantwortung
- Wir arbeiten selbstständig und warten nicht nur auf Anweisungen
- Wir fühlen uns von Kindern nicht persönlich angegriffen
- Wir sprechen mit Kindern nicht über unsere Probleme
- Wir sprechen mit Kindern nicht schlecht über andere Kinder
- Wir haben keine Geheimnisse mit Kindern
- Wir erledigen während der Arbeitszeit keine persönlichen Dinge
- Wir stellen das Wohl des Kindes immer vor das eigene Wohl
- Wir kommen nicht zur Arbeit, um uns selbst zu therapieren
- Wir setzen Vorgaben und Absprachen wie besprochen um
- Wir kommunizieren über berufliche Kanäle, also über das Diensthandy oder die E- Mail-Adresse
- Wir sind selbstreflektiert und suchen die Schuld für Fehler nicht nur bei anderen
- Wir starren Kinder nicht an
- Wir sind nicht beleidigt, wenn Kinder eine andere Meinung haben als wir
Verhalten gegenüber Kolleg*innen:
- Wir behandeln Kolleg*innen respektvoll
- Wir fassen Kolleg*innen nicht an
- Wir setzen Kolleg*innen nicht unter Druck
- Wir sind ehrlich
- Wir gehen respektvoll mit Meinungsverschiedenheiten um
- Wir respektieren die Privatsphäre der Kolleg*innen
„Was soll das?“, könnte man meinen. Schließlich sollten die erwähnten Punkte bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen selbstverständlich sein (wobei die Liste natürlich noch ausführlicher sein könnte). Bedauerlicherweise handelte es sich dabei aber nicht um eine generelle Leitlinie, sondern um eine Intervention von mir, nachdem alle der genannten Punkte als Fehlverhalten aufgetreten waren. Gut, ein Einzelfall, oder?
Leider nicht.
Die Leiden des Ambitionierten Mechanikers
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Ich habe auf Grund meiner Erfahrungen viel Respekt vor vielen engagierten und fähigen Erzieher*innen, Lehrkräften und Sozialpädagog*innen. Ihre Arbeit ist von hohem Wert und bekommt oft nicht die Anerkennung, die sie verdient. Nur leider gibt es eben auch viele Kolleg*innen, die für ihre Arbeit eine völlige Fehlbesetzung sind.
Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Mechaniker. Sie würden sich gerne auf Ihre Arbeit konzentrieren, denn schließlich haben Sie sich ja bewusst dazu entschieden, Fahrzeuge zu reparieren. Stattdessen müssen Sie aber dauernd im Blick haben, dass der eine Kollege nicht wieder das falsche Kabel durchtrennt, eine Kollegin beim Versuch des Ölwechsels den Motor ruiniert oder ein weiterer Kollege beim Einfahren in die Werkstatt nicht wieder das Tor rammt. Was bleibt Ihnen also übrig? Um sicherzugehen, dass Ihre Werkstatt nicht im Chaos versinkt, müssen Sie versuchen, so viel wie möglich selbst zu machen. Nur bleibt dabei die eigentliche Arbeit auf der Strecke. Schließlich kommen Sie an dem Punkt an, an dem Sie sich darüber freuen, wenn ein Kollege sich krank meldet, da Sie so zumindest auf ein Problem weniger achten müssen. Zusätzlich hilft es natürlich nicht, wenn anschließend Kunden meinen, Sie würden Ihre Arbeit nicht richtig machen und sie selbst könnten es besser. Der Lack, den Sie verwendet haben sei falsch und die Räder hätten Sie auch noch falschrum montiert.
Und was macht derweil die Chefin? Die lässt sich kaum blicken, vermittelt so das Gefühl, sich nicht für die eigentliche Arbeit zu interessieren, bleibt im Büro und kommt bei Gesprächen immer nur auf Zahlen zu sprechen, ohne dabei die eigentlich Arbeit zu verstehen. Wie auch? Schließlich ist sie selbst keine Mechanikerin. Sie schaut nur auf die Abrechnungen und nicht auf die Arbeit, die diesen vorausgeht. Ein armer Mensch, unser Mechaniker, den diese unhaltbaren Zustände zunehmend stressen. Was kann er tun?
Der entsprechende Arbeitsmarkt ist leergefegt. Es entsteht der Eindruck, dass jeder eingestellt wird, der in der Schule schon einmal einen Mutternschlüssel bei einer PowerPoint-Präsentation kennengelernt hat. Was leidet also? Die Qualität der Arbeit. Nicht, weil unser Mechaniker nicht kann oder will. Ihm sind ganz einfach die Hände gebunden. Was aber, wenn aus diesen Beschränkungen Gefährdungen entstehen durch unzureichend reparierte Fahrzeuge?
Was also, wenn es nun nicht um die Arbeit mit Fahrzeugen, sondern die Arbeit mit Menschen geht? Was, wenn sich ein Sozialpädagoge so fühlt wie der erwähnte Mechaniker? Je nachdem, welche Statistiken oder Studien gerade im Licht der Öffentlichkeit auftauchen, wird immer mal wieder erwähnt, wie wichtig Kindertagesstätten und Schulen für unsere Gesellschaft sind. Sie sind es, ohne Zweifel, nur reden wir viel zu selten darüber, welche gravierenden Defizite es in diesem Bereich gibt. So manche Eltern würden vielleicht schaudern, wenn sie wüssten, welchen Menschen sie ihre Kinder unter verschiedenen Umständen anvertrauen.
Von falschen Motiven und fragwürdigen Überzeugungen
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Aus meiner eigenen Erfahrung ist eines der großen Probleme bereits, dass sich viele junge Menschen für ein Studium der Sozialpädagogik entscheiden, welche mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Natürlich sind solche Erkrankungen keine Schande, aber man darf nicht vergessen, dass es unsere Aufgabe ist, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen – und wie sollen wir das zuverlässig leisten können, wenn wir mit uns selbst zu kämpfen haben?
Das führt allerdings zum nächsten Problem: der Motivation für die Berufswahl. „Ich glaube, dass der Kontakt mit anderen Menschen gut für mich ist!“, ist ein häufig genannter Grund. Sollte die Begründung aber nicht lieber sein: „Ich bin davon überzeugt, dass der Kontakt mit mir gut für andere Menschen ist!“ Was ist der Unterschied? Bei der ersten Version geht es um egozentristische Motive, im schlimmsten Fall also um Selbstmedikation. Ob das gut für die Klient*innen ist, steht nicht im Fokus. Bei der zweiten Version geht es um das Wohl der Zielgruppe, also eigentlich um die eigene Eignung für den Beruf.
Um erneut eine Metapher zu bedienen: Sie fragen Ihre Zahnärztin, ob sie davon überzeugt ist, ihre Arbeit gut zu machen. Die Antwort: „Ich weiß nicht, aber ich mache es sehr gerne!“ Wie würden Sie sich fühlen? Wahrscheinlich würden Sie demnächst die Praxis wechseln.
Ich habe schon oft gehört, dass die eigene Betroffenheit in Bezug auf psychische Probleme das Empathievermögen und Verständnis für die Zielgruppe erhöht. Das Argument sehe ich schon deshalb kritisch, da ich glaube, dass es die notwendige professionelle Distanz zum Thema und zum Klientel erschwert. Wir sollen nicht nur verständnisvoll sein, sondern vor allem hilfreich. Erneut: Was für ein Gefühl hätten wir, wenn Polizist*innen selbst kriminell wären? Wenn Schuster*innen schlechte Schuhe hätten? Wenn Feuerwehrleute gerne kokelten? Wäre das gut, weil es das Verständnis für die Zielgruppe und für ihren Beruf erhöhen würde? Wären sie glaubwürdiger?
Das nächste Problem: Selbstbewusstsein wird in der Sozialpädagogik schnell als Arroganz aufgefasst. Wenn man von seiner eigenen Arbeit überzeugt ist und das auch äußert, wird man oft schräg angesehen. Umgekehrt tun sich Sozialpädagog*innen oft sehr schwer damit, sich als kompetent darzustellen. Man möchte halt nicht den Eindruck erwecken, eingebildet oder anmaßend zu sein. Wie kann man denn auch im sozialen Bereich messen, ob die eigene Arbeit gut ist oder nicht? Auch das wird man wohl nur selten in anderen Berufsfeldern finden. Warum sollte ein Maurer nicht selbstbewusst behaupten, er könne gut mauern?
Zudem tun sich viele Menschen im sozialen Bereich schwer mit Kritik und verwechseln sie mit Angriffen oder Beleidigungen. Sicherlich ein gesamtgesellschaftliches Problem, aber möglicherweise noch größer in einem Bereich, in dem man es als selbstverständlich voraussetzt, sich hauptsächlich lobend zu äußern.
Der Wunsch nach Professionalisierung
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Warum also diese ganzen Metaphern? Die Arbeit mit Menschen ist doch etwas ganz anderes! Oder etwa nicht? Was ich mir wünsche ist eine Professionalisierung der Sozialpädagogik, also Dinge, die in anderen Berufsfeldern eher normal sind. Darunter verstehe ich starke Überzeugungen, sodass das eigene Handeln jederzeit hinterfragt und begründet werden kann; der Anspruch, gut zu sein in dem, was man tut; regelmäßige Fortbildungen, die meine Ansichten in Frage stellen und meinen Horizont erweitern; Kritikfähigkeit; und ja, auch einen gewissen Leistungsgedanken.
Wenn ich mich selbst regelmäßig fortbilde, reflektiere und mich selbst hinterfrage; wenn ich Verantwortung übernehme und gestalte; wenn ich Probleme löse und sie nicht nur verwalte; wenn ich mehr Aufgaben übernehme als andere; dann wäre es ein wichtiges Zeichen der Wertschätzung, nicht genauso bezahlt zu werden wie eine Kollegin, die nichts davon macht und in Momenten emotionaler Krisen im Büro sitzt und mit ihrem Stofffuchs spricht, während ich mich um 40 Kinder kümmere. Kommt nicht vor? Doch! Wie gesagt, ich spreche aus Erfahrung. Nur leider wird man als Sozialpädagog*in eher nach Zeit als nach Ergebnissen bezahlt. Auch wenn es befreiend sein kann, nicht immer vom Ergebnisdruck getrieben zu werden, ist die Ungleichheit der Arbeitsleistung bei gleicher Bezahlung ein Hemmschuh für überdurchschnittlich motiviertes Personal.
Was wurde stattdessen im Studium als Professionalisierung der sozialen Arbeit bezeichnet? Das wir mehr Forschung und Theorien bräuchten, auf die sich unsere Arbeit stützt. Ein rotes Tuch für mich. Noch nie war die Pädagogik so akademisiert wie heute. Noch nie hatten Kinder und Jugendliche so viele psychische Probleme. Natürlich kann man Korrelation nicht mit Kausation gleichsetzen. Man sollte sie aber auch nicht ignorieren. Zudem sehe ich die Gefahr, dass der verstärkte Theoriebezug das eigene Verständnis für die Arbeit schmälert.
Dazu noch eine letzte Metapher: Mir ist ein Mensch lieber, der durch Erfahrung und Verstand weiß, wie man ein Auto fährt als jener, welcher vor jedem Schaltvorgang ins Handbuch schaut. Wer gut begründbare Überzeugungen hat, der braucht sich nicht auf Theorien beziehen. Genauso habe ich auch das Gefühl, dass manche Menschen gerne Zitate benutzen, weil sie selbst nichts zu sagen haben. Erkläre mir bitte nicht das Montessori-Konzept, sondern mit eigenen Worten, warum dein Verhalten langfristig gut für das Kind ist! Auch hier gilt für mich: Erst, wenn ich etwas mit eigenen Worten verständlich erklären kann, habe ich es auch verstanden (auch das ist ein Anspruch, den ich an Professionalisierung habe).
Vielleicht dient das Beziehen auf Theorien aber auch dem Selbstschutz. Schließlich muss man sein eigenes Verhalten weniger reflektieren. Ob etwas funktioniert oder nicht hängt halt von der Theorie ab. Ich kann quasi kaum etwas dafür. Und wenn die Theorie nicht greift? Ist dann etwas mit dem Kind verkehrt?
Von Wölfen, die es auf schwarze Schafe absehen
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Schließlich noch ein letzter Punkt zum Thema Professionalisierung: Man kann eine andere Meinung haben als die meinige, man kann polemische Zuspitzungen ablehnen, man kann die vielen fähigen Kolleg*innen erwähnen (was ich ohnehin eingangs tat), aber man sollte nicht widersprechen, wenn es darum geht, die Qualität unserer Arbeit zu verbessern.
Wenn man gegen Rassismus oder Gewalt bei der Polizei vorgehen möchte, dann ist das kein Generalverdacht, sondern ein berechtigtes Interesse von Gesellschaft und der Polizei selbst, da es ihrem Ruf dienen kann, wenn es solche Vorfälle nicht mehr gibt. Wenn man über Konzepte spricht, welche sexuellen Missbrauch in Kindertagesstätten verhindern sollen, dann ist das kein Generalverdacht gegen Erziehende, sondern wichtig für den eigenen Ruf (gerade von Männern in diesem Bereich). Wenn man gegen Korruption im Bundestag vorgehen möchte, dann ist das kein Generalverdacht gegen Politiker*innen, sondern eine notwendige Kontrolle zum Aufbau von Vertrauen.
So lasst uns also Sozialpädagog*innen und Erziehende, Lehrkräfte und Psycholog*innen kritisieren – also uns selbst. Das macht uns nicht zu Nestbeschmutzern, sondern zu professionell denkenden Fachkräften. Nicht, um diese Gruppen unter Generalverdacht zu stellen, sondern weil wir alle dazulernen und uns und die gesamten Berufsstände weiterentwickeln können.
Weil es gut für unseren Ruf wäre.
Weil es die Qualität unserer Arbeit verbessern könnte.
Weil es ehrlich wäre.
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