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Fremde erde ist nur fremd, solang der Fremde sie nicht kennt

Autorenbild: Stephan Rinke-MokayStephan Rinke-Mokay

Nur wenn wir verinnerlichen, dass es einen großen Unterschied macht, über oder mit jemandem zu sprechen, werden wir Diversität wirklich erkennen und akzeptieren können



Zugegeben, dauerhaft Fliegen von einem Abendbrot zu verscheuchen trägt genauso wenig zu meinem Essvergnügen bei wie die abgeranzte Ausstattung oder treibende Partikel im zur Verfügung gestellten Trinkwasser. Zudem bin ich kein Fan davon, ohne Besteck zu essen, aber zumindest sind Waschbecken in solchen Lokalen Standard. Ich nehme an, es handelt sich um ein pakistanisches Restaurant, welches ich mir für mein Mahl ausgesucht habe, aber sicher kann ich nicht sein. Schließlich bin ich nicht erfahren genug, um den Unterschied zu einem indischen Etablissement erkennen zu können. In Dubai stellen Menschen aus Indien und Pakistan bei weitem den größten Teil der Bevölkerung, weshalb man mit Urdu, Hindi oder Punjabi weiter kommen könnte als mit Arabisch. Angesichts der Preise sind deren Gaststätten oft eine gute Wahl, wenn man Geld sparen möchte.



Natürlich nur, wenn man als Europäer offen für Neues ist. Während des Essens dämmert es mir irgendwann, dass der milchige Dip, den ich für meine Gurkenscheiben nutze, nicht etwa zu dünnflüssig geraten, sondern wohl doch eher zum Trinken gedacht ist. Die Soße, die mit frisch gebackenem Brot serviert wird, enthält Gewürze, die ich vielleicht nie zuvor probiert habe und dementsprechend auch nicht identifizieren kann. Es ist jedoch sättigend, und ich verlasse das Restaurant mit einer Rechnung von gerade einmal 15 Dirham (AED), weniger als 4 Euro. Auf den Straßen probiere ich frisches Gebäck für einen Dirham pro Stück, welches vermutlich ebenfalls aus pakistanischen oder indischen Küchen stammt.



Ich befinde mich in Deira, dem alten Teil von Dubai, welcher schon lange existierte, bevor im Süden Wolkenkratzer in die Höhe schossen und das Bild der Stadt auf den Kopf stellten. Hier gibt es keinen Glanz, keine Instagram-würdigen Hintergründe und nur sehr wenige weiße Touristen. Das heißt jedoch nicht, dass Deira nichts zu bieten hätte. Neben den niedrigen Preisen lockt es Liebhaber verwinkelter Gassen mit einem Labyrinth aus Nebenstraßen, Geschäften und Märkten. An jeder Ecke herrscht reges Treiben, und zu Fuß kann man tatsächlich die meisten Orte erreichen, die man besuchen möchte - ganz im Gegensatz zur restlichen Metropole.



Doch Deira stinkt, ist überfüllt und nicht sonderlich schön anzusehen - kurz gesagt, es ist der ehrlichere Teil von Dubai. Hier leben viele der Menschen, die die Stadt aufbauen und am Leben erhalten. Sie kommen, um der Hoffnungslosigkeit in ihrer Heimat zu entfliehen und um Geld zu verdienen, mit dem sie die zurückgelassene Familie unterstützen können. An einem solchen Ort fühle ich mich wohl. Schließlich habe ich andererseits oft das Gefühl, ein Scharlatan zu sein, wenn ich teure Hotels für Netzwerktreffen betrete. In Deira braucht man sich nicht verstellen. Alle wissen, dass sie um ihr täglich Brot kämpfen, nicht um Follower.



In Deutschland ließ ich mir nie die Haare schneiden oder mich rasieren. Ich tat es immer selbst. Wenn aber ein Haarschnitt und eine Rasur - und dazu noch eine gute - zusammen nur 20 AED oder 5 Euro kosten, dann ist die Entscheidung, es professionell machen zu lassen, leicht. Das Gefühl einer ungeschützten Rasierklinge an meiner Kehle bereitet mir Unbehagen, aber das Ergebnis ist gut und führt zudem zu weniger Hautreizungen als meine eigenen Bemühungen. Auf die dort anscheinend übliche Form der Massage könnte ich jedoch verzichten. Männerhände, die mir über das Gesicht gleiten lösen bei mir ähnlich wenig Jubelstürme aus wie eine Rückenbehandlung, die ich von Schlägen nicht unterscheiden kann.



Also gut, Deira ist billig. Ist das alles? Kommen wir noch einmal auf mein Abendbrot zurück: Warum akzeptiere ich zweifelhafte hygienische Bedingungen? Weil ich genauso ein Mensch bin wie die üblichen Kunden. Wenn diese Umgebung für sie gut genug ist, sollte sie es auch für mich sein. Oder warum sollte ich höhere Standards für mich selbst erwarten? Wegen meiner Privilegien?


Meine Komfortzone zu verlassen wirkt Arroganz entgegen. Es befriedigt meine Neugierde, hilft mir zu lernen und zu entdecken und erdet mich. Ich bin Sozialarbeiter. Wie könnte ich einem potenziellen Klienten helfen, wenn ich dessen Lebenswirklichkeit gar nicht kennen würde? Ein Schmetterling kann einem Regenwurm keine guten Ratschläge geben; er versteht die Erde nicht. Bücher zu lesen oder Vorlesungen zu besuchen ändert daran nichts. Genau darum geht es: Es ist leicht, über Menschen zu reden, aber wir sollten die Demut haben, mit ihnen zu sprechen, bevor wir uns ein Urteil bilden.



Ein Mangel an Bildung ist die Hauptquelle von Vorurteilen und Missverständnissen. In Dubai schätze ich das internationale Flair. Da die Einheimischen weniger als 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind wir fast alle Ausländer. Wir sind ähnlich und doch nicht gleich. Die Nationalität beeinflusst, wie Menschen wahrgenommen und beurteilt werden. Die verschiedenen Gruppen leben nebeneinander, nicht miteinander. In diesem Sinne ist Dubai wie jeder andere Ort auch keine Utopie des Verständnisses und der Harmonie. Es wäre einfach, denen zu folgen, welche vor mir kamen, und das Rad von Vorurteilen und Stereotypen weiter anzutreiben. Aber das ist nicht der Anspruch, den ich an mich selbst habe. Also betrete ich fremden Boden - und merke dabei in der Regel, dass er sich ähnlich anfühlt wie der vertraute.


Letztendlich ist es das größte Kompliment, wenn mir ein Taxifahrer nach einer Fahrt sagt, dass ich der erste Mensch war, der Ungleichheit anerkennt und seine Geschichte hören wollte. Es zeigt mir, dass ich kein Heuchler bin.



Die Metro während der Hauptverkehrszeiten zu benutzen, kann ein Albtraum sein, besonders für diejenigen, die sich unwohl fühlen, wenn es zu ungewolltem Körperkontakt mit Fremden kommt. Menschen, die keinen Abstand halten oder sich vordrängeln können einen wahnsinnig machen, genauso wie schmatzendes Essen mit offenem Mund oder mangelnde Körperhygiene. Es ist dabei einfach, andere nach unseren Maßstäben und unserem Wissen zu bewerten, so wie wir es jeden Tag tun. Bis wir aber ihre Geschichte, ihre Sorgen und Herausforderungen kennen, sollten wir uns mit Urteilen zurückhalten.



Fürchte dich nicht vor dem, was du nicht kennst, und urteile nicht darüber. Es ist kein nachhaltiger Weg für die Menschheit. Sei dir der Blase bewusst, in der du lebst, und habe keine Angst vor anderen Formen. Sprich mit Menschen, nicht über sie. Schätze Vielfalt und respektiere das Recht, anders zu sein.


Zugegeben, trotz bester Bemühungen könnte es passieren, trotzdem nur Arschlöcher kennenzulernen. Wenn du es jedoch gar nicht erst mit Offenheit versuchst, könntest du bereits selbst eines von ihnen sein.



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