Wer sagt, dass Gewalt gegen Kinder schlecht ist? In der Erziehung gibt es keine absoluten Wahrheiten - oder etwa doch?
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Egal, wie alt man ist - man hat sein ganzes Leben mit seiner eigenen Haut verbracht. Narben oder Flecken machen sie einzigartig und erinnern uns an gemeinsame Erlebnisse. Sie altert mit uns, wächst, ändert sich. Niemand ist besser vertraut mit unserer eigenen Haut als wir selbst. Wenn wir nun aber eine Unregelmäßigkeit entdecken, würden wir uns selbst behandeln oder doch letztendlich die Dermatologie um Rat fragen?
Natürlich gibt es auch Menschen, die moderne Medizin und Wissenschaft ablehnen und dementsprechend tatsächlich auf einen solchen Rat verzichten würden. Die Mehrheit von uns würde aber sicherlich akzeptieren, dass es Expert*innen für bestimmte Themen gibt, die man konsultieren sollte, wenn man Hilfe braucht. Habe ich Zahnschmerzen, gehe ich zur Zahnklinik. Frauen gehen regelmäßig zur Gynäkologie. Wenn wir mentale Probleme haben und uns dies auch eingestehen, suchen wir Hilfe in der Psychologie. Wir akzeptieren und verstehen, dass es Menschen für diese Themen mit besonderer Expertise gibt, welche uns gut beraten können.
Gleiches, so scheint mir, gilt nicht für den Bereich Erziehung. Wie viele Eltern würden sich für den Umgang mit dem eigenen Kind professionellen Rat holen? Ist uns überhaupt bewusst, dass es auch für dieses Thema Spezialist*innen gibt? Es gibt sie, und ich betrachte mich als einen davon. Wenn es dann allerdings um Erziehungsberatung geht, stößt man auf mehrere Probleme.
Kann man ein Erziehungsexperte sein, wenn man selbst keine Kinder hat?
Kann man ein Gynäkologe sein, wenn man selbst keine Frau ist? Kann man in der Drogenberatung arbeiten, wenn man selbst nicht drogensüchtig ist? Kann ein Zahnarzt mit guten Zähnen wirklich verständnisvoll seine Arbeit erledigen? Kann man ein guter Polizist sein, wenn man selbst nicht kriminell ist? Usw. Ich denke, dass diese Fragen und Vergleiche nicht naheliegend sind und dass wir verstehen, dass Menschen ihre Profession gut und gewissenhaft ausführen können, wenn sie selbst nicht vom behandelten Thema betroffen sind. Warum gehen wir bei der Erziehung von ganz anderen Mechanismen aus?
Ich selbst habe keine Kinder, was manchmal genutzt wird, um die Aussagekraft meiner Vorschläge zu unterminieren. "Weißt du überhaupt, wovon du sprichst, wenn du selbst kein Vater bist?" Die eigene Betroffenheit scheint wichtiger zu sein als jahrelange Erfahrung in der Arbeit mit Hunderten von Kindern aller Altersgruppen, die unzähligen Fort- und Weiterbildungen sowie akademische Abschlüsse. Selbst Kinder zu haben, so scheint es, führt zum eigenen Expert*innenstatus. Doch wenn dem so sei, warum gibt es dann so viele leidende Kinder - und Eltern?
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Beratung soll unterstützen, nicht urteilen
Das zweite Problem, dem ich in der Erziehungsberatung begegne ist, dass Erziehung ein sehr intimes und sensibles Thema ist. Das Ziel der Beratung ist es, sowohl die Kinder als auch die Eltern zu ihrem Vorteil zu unterstützen, aber es kann leicht als verletzende Kritik aufgefasst werden. Haben wir als Eltern versagt? Sind wir schuld daran, dass es unserem Kind nicht gut geht? Kennst du uns und unser Kind überhaupt gut genug, um uns Ratschläge zu erteilen? Erziehungsberatung kann nicht auf Anweisungen oder Urteilen beruhen. Es muss ein gemeinsamer Prozess sein, bei dem man reflektiert und zusammen nach Lösungen sucht. Das einzige Thema, welches mir einfällt, bei dem Menschen ähnlich empfindlich reagieren, ist Religion. Sobald man eine andere Meinung äußert, besteht die Gefahr, dass sich jemand beleidigt oder angegriffen fühlt (was natürlich selbst gewählt wäre. Man wird nicht beleidigt, man entscheidet sich dazu, beleidigt zu sein). Widerspruch wird lediglich als persönliche Meinung abgetan, was zum dritten Punkt führt.
Wenn Kulturrelativismus Verstand ersetzt
Das dritte Problem beim Thema Erziehung ist die Seltenheit, über objektive Wahrheiten sprechen zu können. Während ich die Sensibilität von Eltern bezüglich Ratschlägen sehr gut nachvollziehen kann, finde ich diesen Umstand sehr befremdlich. Wenn es um uns Erwachsene geht, dann sind wir uns (hoffentlich) einig, dass wir Liebe, Sicherheit, Gesundheit, Freundschaft, Anerkennung, Freiheit, usw. brauchen, um uns wohl zu fühlen. Wenn es allerdings darum geht, welche Behandlung wir den Kindern zu Gute lassen kommen sollten, hört die Einigkeit oft auf, als ob es sich bei Kindern um völlig andere Lebewesen handelte. Selbst etwas, was ich als so offensichtlich falsch ansehe - körperliche Gewalt - wird von anderen gerechtfertigt auf Grund unterschiedlicher kultureller Hintergründe oder Überzeugungen.
Vor ein paar Tagen erst sprach ich mit einem Touristen aus Hongkong darüber. Er war selbst Vater und argumentierte, dass es in seiner Kultur ganz einfach anders und körperliche Züchtigung akzeptabel sei. Das reiche aus, um es zu rechtfertigen. Ein Kind würde seiner Meinung nach Gewalt auch gar nicht so bewusst wahrnehmen wie es bei uns Erwachsenen der Fall sei. Woher will er das wissen? Und wie sieht es mit dem unbewussten Schaden aus? Körperliche Gewalt hat keinen erzieherischen Nutzen. Für Kinder ist es wichtig, aus welchen Intentionen heraus wir handeln. Schläge haben keine andere Intension als einem anderen Menschen Schmerzen zuzufügen (und über Furcht Unterwürfigkeit zu erzwingen). Die Intention ist ausschließlich schlecht. Es wird Spuren hinterlassen und nichts sollte es rechtfertigen können.
Genau das ist aber das Problem mit Kulturrelativismus: Wir versuchen nicht, objektive Wahrheiten zu finden, was tatsächlich gut und was schlecht ist. Stattdessen argumentieren wir, dass etwas akzeptabel ist, ganz einfach weil es in unserer Kultur existiert. Dabei würde ich gerne einen Juden hören, der Antisemitismus oder einen Moslem, der Islamfeindlichkeit in Deutschland damit rechtfertigt, dass es eben weitverbreitet ist. Das wird natürlich nicht passieren, denn Kulturrelativismus ist in der Regel unaufrichtig. Er wird dann ins Feld geführt, wenn er meinen eigenen Interessen dient. Wenn ich damit verteidige, dass Kinder geschlagen, beschnitten oder gedemütigt werden, dann wahrscheinlich deswegen, weil ich es selber befürworte und tun würde. Dabei lassen wir großzügig die Teile unserer Kultur unter den Tisch fallen, die nicht unseren Interessen dienen. Diese verteidigen wir nicht mit dem gleichen Enthusiasmus. Wir picken uns heraus, was zu unserem Vorteil ist. Blanke Heuchelei.
Natürlich gibt es nicht den einen richtigen, perfekten Weg, um Kinder zu erziehen. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass objektive Wahrheiten existieren und dass diese universell sind. Wir sollten also weniger über Kulturen oder Traditionen, familiäre Hintergründe oder Glauben sprechen und stattdessen das individuelle Wohlbefinden in den Mittelpunkt rücken. Was gut für uns Erwachsene ist, ist meistens auch gut für unsere Kinder. Wie würden wir uns fühlen, wenn jemand mit uns so umginge, wie wir mit unseren Kindern umgehen?
Kinder haben Rechte - und diese sind unabhängig von unseren Meinungen. Wenn wir das nicht akzeptieren, dann werden wir daran scheitern ihnen beizubringen, wie sie die Welt zu einem besseren Ort machen können. Kinder sind nicht für unsere Makel verantwortlich - und sie sollten nicht darunter leiden.
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